David Harris
/ AJC Berlin in der Presse

Das AJC und Deutschland: Seit sieben Jahrzehnten eine unwahrscheinliche Freundschaft

Von David Harris, Chief Executive Officer des American Jewish Committee (AJC)

Nach der beispiellosen Tragödie des Holocaust war es alles andere als selbstverständlich, dass eine jüdische Gruppe versucht, Kontakt mit Nachkriegsdeutschland aufzunehmen. Aber genau das hat das American Jewish Committee (AJC) als einzige globale jüdische Organisation getan, während andere Deutschland weitestgehend mieden und sich wünschten, dass es in Vergessenheit gerät. 

Warum? Es war gewiss kein Mangel an Verständnis von den Geschehnissen, die sich während der 12-jährigen Herrschaft des Dritten Reichs ereigneten. Der immense menschliche Tribut war allzu bekannt, ebenso wie das Ausmaß der “Endlösung”, der Mord an den europäischen Juden. Die Befreiung der Konzentrationslager von Auschwitz-Birkenau bis nach Mauthausen enthüllte die furchtbaren Wahrheiten. Die Schrecken dominierten, der Schmerz war stechend.

Es war vielmehr aus einem einfachen Grund: Die Führung des AJC verstand, dass Deutschland nicht ignoriert werden konnte, genauso wenig wie es in ein dauerhaft schwaches Agrarland verwandelt werden konnte, wie einige amerikanische Beamte das Weiße Haus seinerzeit erfolglos zu überzeugen versuchten.

Früher oder später würde Deutschland auf der europäischen und globalen Bühne wieder eine Rolle spielen.

Würde dieses Deutschland wieder eine weitere tyrannische, aggressive Nation sein, die noch mehr Krieg auslöst, oder würde es ein demokratisches und friedliches Land, das mit seinen Nachbarn zusammenarbeitet und zu einer sicheren Welt beiträgt?

Die Antwort war in den 1940er Jahren alles andere als offensichtlich. Die damalige AJC Führung begriff die wesentliche Tatsache, dass sie nicht am Rande sitzen und den Lauf der Geschichte abwarten konnte, um die Antwort auf diese Frage zu enthüllen. Es stand zu viel auf dem Spiel. Sie musste sich daran beteiligen und versuchen, dass die Antwort ein demokratisches und friedliches Deutschland würde.

In den nächsten sieben Jahrzehnten ereignete sich Schritt für Schritt eine bemerkenswerte Geschichte. Es begann mit dem Bestreben, mit Hilfe der amerikanischen Besatzungsbehörden Programme für Deutsche zu Demokratieerziehung, gegenseitigem Respekt, Entnazifizierung und Antisemitismus einzuführen.

Das war nicht einfach und der Prozess war alles andere als geradlinig. 

Nicht jeder Deutsche war bereit, über Nacht der Ideologie abzuschwören, die von 1933 bis 1945 so viele angetrieben hatte. Auch war nicht jeder Deutsche unmittelbar bereit, von Amerikanern, geschweige denn von amerikanischen Juden, Lektionen darüber zu erhalten, wie sie ihr Leben in Zukunft leben sollten. Und in einem verwüsteten Land, in dem Städte zerstört, die wirtschaftliche Infrastruktur ruiniert, Menschen auf der Flucht und die Versorgung mit Lebensmitteln allgegenwärtige Themen waren, war die Akzeptanz eines neuen Wertesystems nicht unbedingt die Priorität.

Aber im Laufe der Zeit und mit Hilfe inspirierender Persönlichkeiten, darunter insbesondere Bundeskanzler Konrad Adenauer, zeichneten sich erste Fortschritte ab.

Westdeutschland hat ab 1949 eine Demokratie aufgebaut, die sich als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen hat. Durch die brillante Vision der beiden Franzosen Robert Schuman und Jean Monnet wurden die ersten Samen der europäischen Integration gesät, in deren Mittelpunkt natürlich auch Westdeutschland stand, da das Hauptziel ihres Projekts in der Verhinderung eines  weiteren Kriegs in Europa lag. Die Vereinigten Staaten haben unermesslich dazu beigetragen, Deutschland wieder auf die Beine zu helfen, demokratische Institutionen zu stärken, seine Sicherheit zu verteidigen und ein zuverlässiger Verbündeter zu werden. Zur Überraschung vieler wurde eine jüdische Gemeinde in Deutschland wiedergeboren und schlug in verschiedenen Städten Wurzeln. Die Aufnahme formeller diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel im Jahr 1965 war ein weiterer Meilenstein der Nachkriegszeit.

All dies unterstrich das Engagement des AJC in Nachkriegsdeutschland und den Glauben an die Möglichkeit, wie unwahrscheinlich es am 8. Mai 1945 auch erschienen sein mag, dass ein vielversprechendes neues Kapitel geschrieben werden könnte.

Im Laufe der Jahre wurde das Engagement des AJC sowohl stärker als auch vielfältiger.

Im Jahr 1980 rief das AJC beispielsweise in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung ein jährliches Austauschprogramm ins Leben, welches nun bereits im 40. Jahr besteht. Dieses Programm bringt amerikanisch-jüdische und aufstrebende deutsche Führungskräfte zu Studienreisen nach Deutschland und in die Vereinigten Staaten. Ziel ist es, das amerikanisch-jüdische Leben besser zu verstehen. 

Es folgten Partnerschaften mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Friedrich-Naumann-Stiftung.

Gestärkt durch ein mehr als vier Jahrzehnte intensives Engagement unterstütze das AJC im Jahr 1990 als erste internationale jüdische Organisation öffentlich die deutsche Wiedervereinigung.

1994 wurde eine dem ersten Anschein nach unwahrscheinliche Beziehung zur Bundeswehr aufgebaut, die heute bereits im 26. Jahr ist. Dies führte zu einer gemeinsamen Zusammenarbeit bei der Unterstützung von Flüchtlingen aus dem Kosovo, die Opfer ethnischer Säuberungen geworden waren. 

Im Jahr 1998 eröffnete AJC als erste amerikanisch-jüdische Gruppe eine ständige Präsenz in Berlin.

2019 kündigte AJC an, dass sein jährlich stattfindendes Global Forum, zu dem regelmäßig Tausende von Teilnehmern kommen, im Juni 2020 in Berlin stattfinden würde. Dies war das erste Mal seit der Gründung der Organisation im Jahr 1906, dass dieses Event in Europa, mehr noch - in Deutschland - stattfinden sollte. 

Der Grund für diese historische Entscheidung war, dass 2020 mit dem 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs zusammenfiel. Es war der richtige Zeitpunkt, um zurückzublicken und sich an die dunkle Vergangenheit zu erinnern, den bemerkenswerten Weg, der seit 1945 beschritten wurde, zu bewerten, Bilanz des heutigen Status Quo zu ziehen und die Zukunft zu planen. Zu den Themen, die beleuchtet werden sollten, gehörten die transatlantische Partnerschaft, die europäische Integration und Solidarität, der weltweiter Anstieg des Antisemitismus, die verblassende Erinnerung an den Holocaust, die Beziehungen zwischen Israel und Europa und der Zustand demokratischer Werte.

Leider musste die Veranstaltung aufgrund der Pandemie abgesagt werden. Es war eine schmerzhafte Entscheidung. Das Global Forum war ausverkauft, die Liste der bestätigten Redner war lang, und die Teilnehmer hätten das Konferenzzentrum für Veranstaltungen in Sachsenhausen und vor dem Brandenburger Tor verlassen.

Zum Glück ist nicht alles verloren. Dank moderner Technik findet stattdessen vom 14. bis 18. Juni ein virtuelles Global Forum statt. Es hat möglicherweise nicht die gleiche emotionale Kraft, wie tatsächlich vor Ort in Berlin zu sein, ermöglicht aber dennoch die Behandlung aktueller Themen - und die Bekräftigung der einzigartigen Verbindung, die in den letzten 75 Jahren zwischen Deutschland und dem AJC geschmiedet wurde.

Möge diese Beziehung als inspirierendes Beispiel für die Möglichkeiten des Fortschritts für Nationen und Menschen überall auf der Welt dienen.

 

Der Beitrag erschien zuerst im Welt am Sonntag