Im Gespräch mit Shalom Ashkenazi
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Resilienz und Recovery - Im Gespräch mit Shalom Ashkenazi, CEO Jordan River Village

Die Traumatisierung durch den 7. Oktober 2023 ist andauernd und betrifft alle Teile der israelischen Gesellschaft. Doch manche Gruppen sind besonders vulnerabel und finden international kaum Aufmerksamkeit. Das Jordan River Village arbeitete vor dem 7. Oktober mit Kindern in Israel, die Behinderungen oder chronische Erkrankungen haben und deren Familien, um ihnen Wochenend- und Sommeraufenthalte in einem sicheren Umfeld zu ermöglichen. Shalom Ashkenazi, CEO des Jordan River Village, erzählt uns im Gespräch, wie sich die Arbeit des Jordan River Village nach dem 7. Oktober veränderte: So fanden im Sommercamp Familien Schutz, die ihre Wohnorte an Israels Grenzen verlassen mussten und das Team betreute befreite Geiseln und andere Geiselfamilien. Bis heute navigieren Shalom und das Team des Jordan River Village die neue Realität, in der sich Israel seit einem Jahr wiederfindet.

Das Jordan River Village hat vor dem 7. Oktober Kinder mit chronischen Krankheiten unterstützt. Wie sah Ihre Arbeit vor dem Terroranschlag aus und wie hat sie sich seitdem verändert?

Shalom Ashkenazi:  Das Jordan River Village hat drei Aufgaben. Unsere Hauptaufgabe besteht darin, Kinder mit medizinischen Problemen für drei bis vier Nächte zu beherbergen, die nicht an normalen Sommercamps teilnehmen können. Wir nehmen sie hier im Jordan River Village auf und helfen ihnen, das Leben trotz ihrer chronischen Krankheiten zu genießen. Die Tatsache, dass sie chronisch krank sind oder eine Behinderung haben, sollte sie nicht daran hindern, Spaß zu haben. Wir fordern sie heraus, ihre Ziele zu erreichen, und die Kinder spüren den positiven Einfluss ihres Aufenthalts im Jordan River Village noch mehrere Monate später.

Ich sage immer unsere zweite Mission ist es, nicht nur ein Stück Land zu sein, sondern ein Land des Friedens - ein Land des Friedens zwischen Juden und Arabern, religiösen und säkularen Menschen, Linken und Rechten, armen und reichen Menschen, Menschen aus den Vororten und aus dem Zentrum von Tel Aviv. Wir wollen, dass sie alle einander begegnen und sich zusammentun.

Und drittens, das hängt mit dem 7. Oktober zusammen, kümmern wir uns um nationale Belange. Am 7. Oktober, um 7.30 Uhr morgens, merkten wir, dass Israel von Raketen angegriffen wurde und einem Terroranschlag ausgesetzt war, wie wir ihn noch nie erlebt hatten. Daraufhin begannen wir, die Namen ehemaliger Camper [des Jordan River Village] zu sammeln, die im Süden nahe der Grenze zu Gaza oder an der Nordgrenze leben. Wir boten ihren gesamten Familien an, ins Jordan River Village zu kommen und sich dort zu erholen. Zu diesem Zeitpunkt rechneten wir noch nicht damit, dass der Krieg elf Monate dauern würde. Schon am 8. Oktober nahmen wir 20 vertriebene Familien auf, die 49 Tage lang bei uns blieben.

Nach diesen 49 Tagen begannen wir, Kinder aufzunehmen, die aus der Gefangenschaft [in Gaza] zurückgekehrt waren. Wir boten fünf Sessions für Kinder an, die in Gefangenschaft gewesen waren, ebenso wie für Familienmitglieder von Kindern, die sich noch immer in Gefangenschaft befanden.

Wie sah Ihre Arbeit mit den befreiten Geiseln und ihren Familien aus? Welche Bedürfnisse haben sie, und wo brauchen sie Hilfe?

Shalom Ashkenazi:  Bevor die befreiten Kinder eintrafen, gab es einen Orientierungstag, an dem wir unsere Betreuer im Umgang mit den Kindern, die aus der Gefangenschaft zurückkamen, schulten. Zunächst durften sie in der Nähe der Kinder nicht auf Arabisch sprechen, da sie das an die Gefangenschaft hätte erinnern können. Außerdem durfte kein Kind nach Einbruch der Dunkelheit allein gelassen werden. Wir installierten deswegen auch zusätzliche Lampen im Dorf. Ein Sozialarbeiter riet uns, das Thema Gefangenschaft gar nicht aufzubringen. Wir sollten nur darüber sprechen, wenn die Kinder das Thema selbst ansprachen. Wir mussten sehr vorsichtig sein und Fragen vermeiden wie: „Wie hast du dich in Gefangenschaft gefühlt?“ oder „Was ist mit deinem Vater, der immer noch in Gefangenschaft ist?“

Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen: Wir hatten ein kleines Mädchen zu Gast, das zum damaligen Zeitpunkt neun Jahre alt war. Als sie zusammen mit ihren Angehörigen ankam, war sie sehr still, fast stumm. Immer wenn sie sprach, hielt sie die Hand eines Angehörigen. Doch nachdem sie drei Stunden bei uns war, sagte sie zu ihrem Vater: „Du kannst zu deiner Koje gehen! Ich habe meinen Betreuer hier.“ Sie begann sogar, Lieder von Beyoncé zu singen. Das Mädchen wurde außerdem von einem weiteren Familienmitglied begleitet, und als wir sie fragten warum, erzählte sie uns, dass sie die Schule und ihren Job aufgegeben habe, nachdem das Mädchen befreit worden war, um all ihre Zeit mit ihr zu verbringen. Am Tag nach ihrer Ankunft im Jordan River Village rief sie ihren Freund an und bat ihn, sie abzuholen, weil es dem Mädchen sehr gut ging.

Wir nahmen außerdem eine andere Familie auf, aus der mehrere Mitglieder in Gefangenschaft waren. Die Mutter wurde zwei Tage nach der Tochter freigelassen. Sie saßen im Esszimmer [im Jordan River Village]. Plötzlich kamen zwei Angehörige von Geiseln, die sich noch in den Händen der Hamas befinden, in den Raum und stellten sich vor. Die Tochter der Familie antwortete, dass sie 49 Tage in Gefangenschaft mit der Frau verbracht habe. Das war das erste Mal, dass wir hörten, dass diese Frau noch am Leben war. Wir haben nichts geringeres als Wunder erlebt, als wir die ehemaligen Geiseln beherbergt haben.

Viele Familien in Israel sind aufgrund des anhaltenden Krieges im Norden und im Süden Israels zu Binnenflüchtlingen geworden. Wie hat sich die Vertreibung auf diese Familien ausgewirkt?

Shalom Ashkenazi: Wir haben eine Schule für vertriebene Familien eröffnet. Außerdem haben wir Sessions mit vertriebenen Familien und Flüchtlingen abgehalten. Diese Leute wissen nicht, wann sie nach Hause zurückkehren können. Wenn man das nicht weiß, weiß man nicht, ob man z.B. das neue Schuljahr in unserer Region beginnen sollte oder warten will, bis man nach Hause gehen kann. 

In den Hotels [in denen die Binnenvertriebenen untergebracht sind] gibt es viel Kriminalität unter Jugendlichen, viele Drogen und sexuellen Missbrauch. Eltern müssen mit ihren Kindern und all ihren Sachen in einem kleinen Zimmer leben. Es herrscht Trauer. Ich weiß aus meiner eigenen Siedlung, dass es Menschen gibt, die vor Trauer gestorben sind. Sie wurden mit der Situation nicht fertig. Sie hatten ein Haus und einen Bauernhof gebaut, auf dem sie viele Jahre lang arbeiteten, und dann brach alles innerhalb eines Tages zusammen. Sie haben keine Hoffnung. Eine Mitarbeiterin von uns aus Kiryat Shmona im Norden, die letzte Woche hier angefangen hat, hat fünf Monate in einem Hotel in Eilat, im Süden, verbracht. Sie beschloss, in den Norden zurückzukehren, und ging nach Kiryat Shmona in ihr zerstörtes Haus - alle Fenster waren zerbrochen. Also beschloss sie, zu uns zu kommen, nach Tiberias, und nicht nach Kiryat Shmona zurückzukehren.

Noch etwas Persönliches: Meine Tochter heiratet bald, und einerseits bin ich sehr glücklich, andererseits frage ich mich jedoch, wie ich glücklich sein und tanzen kann, wenn unsere Brüder und Schwestern in den Tunneln in Gaza kämpfen und leiden. Ich sehe kein Licht am Ende des Tunnels. Ich bin ein gläubiger Jude und bete dreimal am Tag, dass Gott die Situation am 6. Oktober zurückbringt. Ich glaube wirklich, dass der Staat Israel in großen Schwierigkeiten steckt.

Wie sieht Ihre Arbeit heute aus? Welche Auswirkungen haben der 7. Oktober und der darauf folgende Krieg noch auf die Kinder in Ihren Programmen?

Shalom Ashkenazi: Es war sehr schwierig für uns, von Oktober bis Dezember Sessions zu machen, weil wir der Meinung sind, dass Kinder mit Behinderungen und besonderen Bedürfnissen wieder in ihren Alltag zurückkehren müssen. Wir beschlossen, dass wir zwar den Familien der Geiseln und den vertriebenen Familien helfen wollten, aber ebenfalls zu unseren regulären Programmen zurückkehren wollten. Deshalb haben wir unsere Sessions an die aktuelle Situation angepasst und berücksichtigen, dass Kinder mit PTSD im Raum sein könnten. Im Januar haben wir wieder mit unseren regulären Kursen begonnen, aber wir haben auch Schulen, die das ganze Jahr über mit vertriebenen Familien, die Kindern mit besonderen Bedürfnissen haben, arbeiten. Nach dem Massaker in Majdal Shams, bei dem viele Kinder getötet wurden, sind wir auf sie zugegangen und haben ihnen angeboten, sie kostenlos hier zu beherbergen. 

Inzwischen kehren wir langsam zu unserer Routine zurück, denn Routine ist Genesung. Es ist ein Wunder, dass wir den Sommer ohne Sirenenalarm im Dorf überstanden haben; wir hatten nur Sirenen, als gerade keine Kinder im Dorf anwesend waren. Ich habe das Gefühl, dass Gott uns beschützt hat. Allerdings mussten wir alle Aktivitäten in unmittelbarer Nähe von Schutzräumen durchführen. Wir haben auch mit dem Bau von drei zusätzlichen großen Schutzräumen im Dorf begonnen, denn wir wollen sicherstellen, dass jedes Kind im Dorf in weniger als einer Minute zu einem Schutzraum laufen kann. Das kostet rund 2,5 Millionen Schekel. Wir haben den Großteil des Geldes aufgebracht, weil wir es für wichtig halten, dass wir den Eltern sagen können, dass wir in der Lage sind, ihre Kinder zu schützen. Außerdem haben wir ein Programm für Kinder mit PTBS aufgebaut, denn in Israel gibt es aktuell neun Millionen Kandidaten für so ein Programm. Ich gehe davon aus, dass ich selbst eine Form von PTBS habe, ebenso wie mein Kind, das im Gazastreifen gekämpft hat, meine Familie, die auf die Rückkehr ihrer Kinder von der Armee gewartet hat, und der Sohn meines Nachbarn, der verletzt wurde.

Welche langfristigen Veränderungen sehen Sie nach dem 7. Oktober in der israelischen Gesellschaft?

Shalom Ashkenazi: Ich denke, es wird mindestens ein oder zwei Generationen dauern, die israelische Gesellschaft zu reparieren. Ich spreche nicht von der Wirtschaft - das traue ich den Menschen zu - sondern vom Vertrauen in das eigene Land, vom Vertrauen darauf, dass das Land einen beschützt und dass die Armee eine starke Armee ist. Ich glaube, sie ist eine starke Armee, aber man braucht das Vertrauen der gesamten Bevölkerung. 

Für die Hochzeit meiner Tochter haben wir einige Tische für Rollstuhlfahrer zugänglich gemacht, weil einigen Soldaten Gliedmaßen amputiert werden mussten. Diese Situation wird die israelische Gesellschaft noch viele Jahre lang prägen. Ich glaube und bete, dass der Satz „Gemeinsam werden wir gewinnen“ wahr ist. Man muss diesen Satz leben und ihn nicht nur sagen und dann gegen seine Nachbarn kämpfen, weil sie anders denken als man selbst. Der Staat Israel und seine Bürger müssen verstehen, dass sich etwas ändern muss, und ich denke, dass unsere Freunde und Verwandten das schon besser verstehen als wir. Ich möchte den Menschen, die Israel von außerhalb unterstützen, danken, ob jüdisch oder nicht, religiös oder nicht. Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die zehntausende Kilometer entfernt leben und sich um unser kleines Land sorgen, bewegt mich. Wir sind gesegnet, dass wir Sie haben.