Teilen auf
Im Jahr 1951 erschien in der deutsch-jüdischen Emigrantenzeitung ‚Aufbau‘ ein Artikel, der sich gegen den aus der Emigration zurückgekehrten Philosophen Max Horkheimer richtete, welcher kurz zuvor Präsident der Frankfurter Universität geworden war. Der anonyme Autor erhob darin schwere Bedenken gegen eine Rückkehr in die post-nationalsozialistische Gesellschaft. Getroffen von den Vorwürfen in dem Artikel übersandte Horkheimer eine Gegendarstellung, in der es heißt: „Den Millionen jüdischer Opfer des Hitlerregimes hält nicht der die Treue, der die Menschen verdächtigt, welche sich um eine substantielle Änderung Deutschlands bemühen, sondern der, welcher sie zu stärken versucht.“
Dem American Jewish Committee (AJC), die Organisation für die der Autor dieses Artikel arbeitet, schlugen seinerzeit die gleichen Bedenken und die gleiche Kritik aus der jüdischen Gemeinschaft und - verständlicherweise - insbesondere von den Überlebenden der deutschen Lager entgegen, als sie sich entschloss, als erste jüdische Organisation wieder Kontakt mit Deutschland aufzunehmen und ebenfalls jene zu bestärken, die sich um eine substantielle Änderung bemühten.
Bereits 1959 reiste eine Delegation des AJC nach Deutschland, um nach Wegen zu suchen, insbesondere der Jugend beim Aufbau eines demokratischen Deutschlands zu helfen. Nur ein Jahr später brachte das AJC erstmals deutsche Lehrer in die Vereinigten Staaten, um Ihnen zu zeigen, wie demokratische Werte vermittelt werden. Diese Aktivitäten sollten dabei helfen, dass die Bundesrepublik ein Teil der zivilisierten Welt und des Westens wird. Dies war auch vor allem anderen ein Vertrauensvorschuss in die westdeutsche Gesellschaft. Dieses Vertrauen des AJC hält bis heute an.
Vor über 20 Jahren haben wir als erste jüdische Organisation ein Büro in Berlin eröffnet und im kommenden Jahr werden wir weit über Tausend unserer Mitglieder und Spender im Rahmen des Global Forum, unserer jährlichen Konferenz, die normalerweise in Washington stattfindet, nach Berlin bringen. Für nicht wenige wird es das erste Mal sein, dass sie das Land betreten, welches ihre Vorfahren entrechtet, beraubt, vertrieben und ermordet hat. Dass wir uns dafür entschieden haben, diese Veranstaltung in Deutschland, in Berlin, von wo aus die ‚Endlösung der Judenfrage‘ geplant und durchgeführt worden ist, zu veranstalten, ist ein erneuter Beweis des Vertrauens in die Bundesrepublik, seine Gesellschaft und Politik.
Doch dieses Vertrauen, auch das ist Teil der Wahrheit, hat nicht erst mit dem antisemitischen Terroranschlag von Halle Risse bekommen. Auch wenn die Ereignisse an Yom Kippur natürlich besonders erschütternd waren, so nimmt man in den USA und in anderen Ländern des Westens durchaus besorgt zur Kenntnis, dass hierzulande etwas ins Rutschen geraten ist und stellt sich die Frage, ob Deutschland eine andere Richtung eingeschlagen hat. Seit Jahren steigt der Antisemitismus und das von allen Richtungen: von rechts, von links, im islamistischen Milieu und auch in der Mitte der Gesellschaft. Jüdinnen und Juden werden wieder auf offener Straße angegriffen.
Nicht wenige fragen, ob es überhaupt sicher ist, im nächsten Sommer nach Berlin zu kommen und ob man Angst haben müsse. Alleine die Tatsache, dass Juden fast 75 Jahre nach dem Ende der Shoa wieder diese Fragen stellen müssen und dass sich gleichzeitig deutsche Juden fragen, ob sie hier noch eine Zukunft haben, ist eine Katastrophe.
Allerdings scheint es so, als würde dies gesamtgesellschaftlich immer noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen zu werden. Wenn etwa nach dem Anschlag in Halle bundesweit nur ein paar hundert Menschen ihre Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft zum Ausdruck bringen, dann hilft dies nicht, die fortschreitende Erosion des Vertrauens in sicher geglaubte Errungenschaften aufzuhalten. Und hier geht es schließlich nicht allein um die Sicherheit und Zukunft von Juden in Deutschland.
Es sollte auch im Interesse der nicht-jüdischen Deutschen sein, den Kampf gegen diese irrationale Wahnideologie aufzunehmen, bevor sie die Gesellschaft als Ganzes zerfrisst. Es steht in diesem Kampf nicht weniger als die liberale Gesellschaftsordnung dieses Landes auf dem Spiel.
Zudem sind es nicht nur die innenpolitischen Ereignisse, die das Vertrauen auf die Probe stellen. In den USA wird ebenso sehr genau registriert, welche Richtung die deutsche Außenpolitik in den vergangenen Jahren genommen hat. Irritiert nimmt man etwa die Leisetreterei gegenüber dem iranischen Regime zur Kenntnis, das täglich damit droht, den jüdischen Staat zu zerstören.
Warum, so fragt man sich, ist es ausgerechnet in Deutschland so schwer vorstellbar, dass ein Regime, das ankündigt Millionen Juden zu ermorden, es ernst meint und dies keine ideologische Folklore ist, sondern der Kern dieses Regimes? Warum darf in Deutschland immer noch eine Airline landen, die sich weigert Israelis zu befördern? Warum darf die antisemitische Terrororganisation Hisbollah immer noch in Deutschland agieren? Warum stimmt die Bundesrepublik in den Vereinten Nationen regelmäßig anti-israelischen Resolutionen zu? Sind kurzfristige politische Ziele oder die Außenhandelsbilanz wichtiger als die historische, politische und moralische Verantwortung?
Nicht zuletzt von den Antworten auf diese Fragen hängt es ab, ob der Vertrauensvorschuss, den auch unsere Organisation der Bundesrepublik gegeben hat, gerechtfertigt war. Bisher ist die Antwort darauf ein Ja, aber es gibt keine Garantien dafür, dass es dabei bleibt. Und es gilt hier, was auch in anderen Bereichen des Lebens gilt: Je härter es ist, Vertrauen zu erarbeiten, desto einfacher ist es, es zu verlieren. Über diese Fragen und die zunehmende Skepsis sollte die Politik und nicht zuletzt die gesamte Gesellschaft im Bilde sein. Oder, um es mit Horkheimer zu sagen, der seine Gegendarstellung mit den Worten schloss: „Es scheint mir wesentlich, dass Ihre Leser das erfahren.”
Der Beitrag erschien zuerst in der Tagesspiegel.